Anlässlich der Veröffentlichung seines dreizehnten Studioalbums und des einzigen zugehörigen Deutschland-Konzerts im Palladium drischt die Musikpresse aktuell auf den sechzigjährigen Briten ein. Womit hat er diesen im Grunde befremdlich wirkenden Gegenwind verdient und wer ist Morrissey eigentlich?
Unser Gastautor Michael Schreiner klärt auf.
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Im Mai 2019 wurde Steven Patrick Morrissey 60 Jahre alt – von Bestrebungen, den Ruhestand vorzubereiten, ist allerdings nichts zu vernehmen. Pünktlich zu seinem sechzigsten Geburtstag veröffentlichte er mit „California Son“, ein Coveralbum der besonderen Art: Zwölf Tracks, die in der Jugend und jungen Erwachsenenzeit des Sängers zu seinen Lieblingsstücken gehörten, interpretiert in seiner einzigartigen Weise – so dass man glatt vermuten könnte, es handle sich um Songs des Meisters selbst. Gut ein Jahr vor „California Son“ erst war der bis dahin letzte eigene Longplayer („Low in high school“) erschienen, und nun, ein knappes Jahr nach dem Coveralbum, kam bereits das nächste Album mit eigenen Songs auf den Markt: „I am not a dog on a chain“. Und darum soll es hier gehen. Auch.
Ein Abend im März. Warten im Innenraum des Kölner Palladiums auf das einzige Deutschland-Konzert im Rahmen der aktuellen Morrissey-Tournee. Erleichterung darüber, dass es stattfinden kann. Dass also weder der exzentrische Brite selbst abgesagt hat (kam ja in der Vergangenheit durchaus vor), noch die Behörden einen Riegel vorgeschoben haben. Wegen Covid-19. Aber nein, erfährt man: das Konzert wird stattfinden. Einen Tag später übrigens werden wegen der Corona-Pandemie in ganz Nordrhein-Westfalen sämtliche Konzerte auf unbestimmte Zeit abgesagt. Kurz vor dem „Weltuntergang“ also noch ein letztes Konzert geschafft. Und dann passenderweise auch noch Morrissey – mehr Drama, Melancholie und Verzweiflung findet man in der zeitgenössischen Popmusik wohl kaum. „Come, armageddon, come“.
Ausverkauft ist das Palladium nicht, aber gut besucht. Etwa 2000 Menschen warten auf den Beginn des Konzerts. Genug, um das Gefühl eines doch schon etwas größeren Ereignisses zu bekommen, aber nicht so viele, dass es eng würde. Man kann also auch recht weit vorn stehen, ohne sich „quetschen“ lassen zu müssen. Angenehm.
Vor der Bühne ist eine große Leinwand gespannt, die Elvis Presley zeigt. Eines der Idole des heute auftretenden Sängers. Es läuft leise Musik. So leise, dass die Stimmen der Wartenden sie übertönen. Gleich neben uns bezieht eine große junge Blondine Stellung, gekleidet in ein Top mit aufgedrucktem PETA-Logo, bewaffnet mit Gladiolen. Die will sie später auf die Bühne werfen, sagt sie im Gespräch. Man merkt ohnehin: da kennt sich jemand aus, trotz offensichtlicher Jugend: die Frau ist maximal Mitte zwanzig, und die Zeiten, in denen Morrissey noch auf der Bühne mit Gladiolen um sich warf, waren die Zeiten seiner ehemaligen Band „The Smiths“. Die musikalisch großartigen Eighties. Aber so ist das in der Fangemeinde des Mozzer: wer es qua Jahrgang nicht selbst erlebt hat, sozusagen später dazu stößt, eignet sich das komplette Wissen über die Karriere seines musikalischen Helden nachträglich an. Das hat etwas Obsessives.
Ein Lebensgefühl aus Melancholie, Hedonismus, Trotz und Protest
Plötzlich bewegte Bilder. Musikvideos erscheinen, es wird lauter. Keine Videos von Morrissey selbst, sondern eine Auswahl von Sachen, die ihm gefallen. Siouxsie ist dabei, Lou Reed, Eddie Cochran, Nico and the Velvet Underground, The Who. Dazwischen immer wieder einige Szenen aus Filmklassikern. Psychedelische Szenen mitunter. Vermittelt wird, in der Summe, ein Lebensgefühl aus Melancholie, Hedonismus, Trotz und Protest. Und eine gute Portion Irrsinn ist auch dabei. Passend zu dem, was Morrissey seit annähernd vierzig Jahren auf die Musikwelt loslässt. Der Zusammenschnitt ist kurzweilig, macht Lust aufs Konzert, stimmt mental ein auf etwas, das Fans seit Jahrzehnten als nahezu spirituelles Erlebnis beschreiben. Aber irgendwann kommt doch zunehmend Unruhe im Publikum auf. Die „pre-Show“auf der Leinwand dauert lange. Zu lange, finden viele. Mehr als eine Stunde.
kryptische, mehrdeutige Sexualität, androgynes Wesen
Lypsinka schaut von der Leinwand, schreit. Offenbar zutiefst entsetzt. Es wirkt, als mustere sie das Publikum. Oder doch „nur“ allgemein gehalten diese Welt, an der Morrissey so tief wie künstlerisch großartig in so vielen seiner Songs verzweifelt? Wie auch immer. Sie schaut noch einmal herab von der Leinwand, schreit erneut, dann fällt die Leinwand herab. Gibt den Blick auf die Bühne frei. Dröhnende Synthies ersetzen die Musik vom Band, die Bühnenbeleuchtung wird eingeschaltet, das Publikum jubelt. Endlich hat das Warten ein Ende. Morrissey betritt, gefolgt von seiner Band, die Bühne.
Mit einer kurzen a-capella-Einlage beginnt das Konzert. Zeilen aus „Wooden heart“ von Elvis Presley.
Treat me nice,
treat me good,
treat me like you really should.
Cause I’m not made of wood,
and I don’t have a wooden
... head
Das letzte Wort ersetzt durch ein anderes. Spielerei mit Songtexten, wie man es von Morrissey kennt. Die Message: ich bin kein Holzkopf. Okay. Erste Botschaft an die Kritiker? Maybe. Zunächst aber folgt ein alter Klassiker der „Smiths“ zur Eröffnung. „How soon is now?“, deutlich rockiger gespielt als in der Indiepop-Version aus den 80ern. Die Fans sind begeistert, das Palladium ist in der Hand des Mozfathers. Der legt im Anschluss gleich nach, mit seinem Comeback-Song von 2003, „Irish blood, english heart“. Es wird also schon politisch, denn in dem Song, der eine Absage an die Royals und die beiden großen britischen Parteien ist, singt Morrissey von seinem Traum einer Zeit, in der man ohne Scham zur Fahne stehen kann, ohne als Rassist oder parteiisch betrachtet zu werden. Im Licht der Gegenwart und der Kontroversen um Morrisseys öffentliche Aussagen aus den letzten Jahren bekommt der Song eine neue Aura. Zu Anne Marie Waters, der veganen Tierrechtlerin, die in einer lesbischen Beziehung lebt und der islamfeindlichen UKIP-Abspaltung „For Britain“ vorsitzt, wird Morrissey sich heute im Palladium aber nicht äußern. Ein wenig hat man ja darauf gewartet, nachdem er kürzlich in einer TV-Show den „For Britain“ Button trug und Waters sich später öffentlich bei Morrissey „for your great support“ bedankte. Bei einem Konzert in Portland, USA, gab es deshalb kleine, aber unübersehbare Proteste gegen Morrissey.
"I blame Macron – for everything"
Ansonsten bleibt es unpolitisch. Nur hier und da schnappt man eine möglicherweise Anspielung auf die Kontroversen der letzten Jahre auf. Etwa, als ein Fan eine Frage Morrisseys mit laut gerufenem „me!“ beantwortet. Morrissey sagt: „Me, too!“ – Betonung und Gestik wirken nachäffend. Möglicherweise ein kleiner nachträglicher Seitenhieb auf die #metoo- Bewegung, die Morrissey als „Theaterstück“ bezeichnet und [1] in einem Interview so kommentiert hatte: „Natürlich gibt es extreme Fälle, Vergewaltigung ist ekelhaft, jeder physische Angriff ist abstoßend. Aber wir müssen es im Verhältnis sehen. Sonst ist jeder Mensch auf diesem Planeten schuldig. Wir können nicht permanent von oben herab entscheiden, was man tun darf und was nicht.“
Andeutungen und Provokationen
Morrissey spielt knapp zwei Stunden ein gelungenes Programm aus alten Klassikern der Smiths, ein paar Coversongs vom eingangs genannten Album, viel Solomaterial und drei Songs aus dem neuen Album, das zum Zeitpunkt des Konzerts noch nicht erschienen war. Für jeden Geschmack etwas dabei. Nur sein bislang größter Hit, „Everyday is like sunday“, fehlt. Und das obligatorische „Meat is murder“ aus Smiths-Zeiten, das bei Konzerten stets in Verbindung mit Sequenzen aus dem PETA-Film „Meet your meat“ gespielt wird. Dennoch haben auch ein- (oder besser: aus?) gefleischte Fans nicht den Eindruck, als erlebten sie hier etwas Unvollständiges. Im Gegenteil. Die Show ist energiegeladen, die Stimmung im Palladium euphorisch. Man feiert seinen Helden.
Vor der letzten Zugabe richtet Morrissey noch einmal das Wort an seine Fans: „Thank you for coming, thank you for staying. Free speech, free speech, free speech! I love you.“ Er belässt es also dabei: keine deutlichen Statements, keine Erklärungen, nur Andeutungen. Das klarste Statement kam zum Schluss: für die freie Rede. Kann man so stehen lassen. Es folgt eine kraftvolle Version des 90er- Klassikers „Jack the ripper“, die Nebelmaschinen werden angeworfen, man sieht kaum noch etwas. Wie an der Themse in London, früh morgens. Aber man hört, und das ist so gut, dass es für den Moment reicht. Schließlich verschwindet der Mozzer im Nebel, es verklingt der letzte Ton. Ein eindrucksvoller Konzertabend ist zu Ende.
Das neue Album: überraschend, elektronisch, soulig und opulent
Knapp zwei Wochen nach dem Konzert erscheint dann „I am not a dog on a chain“. Ein überraschendes Album. Mit „Bobby, don’t you think they know?“ zum Beispiel beinhaltet es einen ziemlich souligen, opulenten Song, der zudem ein Duett mit der Mowtown-Legende Thelma Houston ist. Ungewohnt, aber verdammt eingängig und gut. Elektronisch, ein wenig an Depeche Mode und anderen Bands aus dem Bereich des Synthiepop erinnernd, wird es mit „Once I saw the river clean“. Hier besingt Morrissey vergangene Zeiten mit seiner irischen Großmutter, die nicht mehr wiederkehren werden. Verklärt, melancholisch kommt dieser Ohrwurm daher. Böse Zungen, für die Morrissey inzwischen ein Rechter ist (oder es schon immer war), werden hier reaktionäres Denken vermuten. Aber wer so verstockt-ideologisch über einen Song (dem übrigens besten des Albums) urteilt, Kunst also nicht vom Künstler zu trennen bereit ist, disqualifiziert sich ohnehin für ein ernsthaftes Gespräch über dieses Album. Und, ja, man könnte doch auch einfach nachvollziehen, dass die Zeiten der einstigen „dublin dancer, free and young“ tatsächlich in Teilen bessere waren als die heutigen – ohne das politisch aufladen zu müssen.
Schon beim ersten Song des Albums wird deutlich, dass Morrissey sich musikalisch verändert hat. „Jim Jim falls“ kommt beschwingt daher, auch hier schon deutlich stärker hörbare elektronische Elemente als gewohnt. Morrissey gibt sich ein wenig genervt von Menschen, die alles zerreden, jede Entscheidung öffentlich artikulieren müssen: „if you’re gonna live, then live. Just don’t talk about it“. Und: „if you’re gonna kill yourself, then for gods sake, just kill yourself“ - meine Güte, dann bring dich halt um. Das kommt erstaunlich empathielos rüber, zunächst einmal. Man ist vom Mozzer doch eigentlich gewohnt, mitunter den verständnisvollen Soundtrack für die Krisengeschüttelten unter uns zu singen.
Der Snowflakes und Hippies überdrüssig
Auch die restlichen Songs des Albums sind gelungen, präsentieren sich aber anders als die schon genannten: „What kind of people live in these houses?“ könnte so auch auf „My early burglary years“ (1998) enthalten sein. Ein Ausflug in frühere Zeiten, musikalisch. Und thematisch dem ähnlich, was zum Beispiel „The ordinary boys“ (1988) behandelte: ein Abgesang auf die Oberfläche, die Ignoranz, die Spießbürgerlichkeit. In Anklängen hier aber politisch („They vote the way they vote, they don’t know how to change because their parents did the same“), anknüpfend auch an den Anti- Nachrichten-Song „Spent the day in bed“ (2017): „They look at television, thinking it's their window to the World – that’s got to hurt“.
Gegen Spießbürgerlichkeit, für die Arbeiterklasse, für die Tiere
Einige Songs enthält das Album, die nicht sofort zugänglich sind. „The secret of music“ zum Beispiel, das schleppend und scheinbar strukturarm daher kommt. Es will oft gehört werden, erst dann entfaltet es seine Wirkung. Ähnlich erging es mir mit „My hurling days are done“, das ich tatsächlich für einen schönen, aber gleichzeitig den zweitschwächsten Song des Albums halte. Den letzten Platz belegt das bei Fans merkwürdigerweise oft gefeierte „Darling, I hug a pillow“. Thematisch ausgelutscht, es gibt zum Thema unerfüllte Liebe einfach schon genug Songs der Smiths und von Morrissey. Und auch musikalisch allenfalls nett. Okay, die Bridge in der Mitte des Songs und der Teil zum Ende, mit schönen Trompeten, Synthies und Morrisseys seufzender Stimme im Hintergrund, retten das Stück.
„I am not a dog on a chain“ beinhaltet also tatsächlich keinen einzigen schlechten Song und ist insgesamt ein gutes bis sehr gutes Album. Vor allem das unerwartete Experimentieren mit elektronischen Elementen ist sehr gelungen ausgefallen. Chapeau, Sir.
Die postmoderne Linke hat sich auf Morrissey eingeschossen
Und auch die Musikpresse findet, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht viel gute Worte über das neue Album. Viele Autoren verbreiten sich mehr über Morrisseys angeblichen „Rechtsruck“, geben sich empört oder wahlweise scheinheilig mitleidig über den „zynischen alten Mann“, dem nicht mehr zu helfen sei. Behaupten gar, Morrissey habe, jetzt ja wohl eindeutig „Rechtspopulist“, einen großen Teil seiner Fangemeinde vergrault. Tatsächlich?
Keine politische Agenda – außer Tierschutz
Allenfalls vorwerfen ließe sich ihm eine gewisse Naivität, geboren aus nicht zu Ende gedachten Schlussfolgerungen: Morrissey mag den Islamismus nicht (aber welcher einigermaßen vernünftige Mensch tut das schon?). Er ist Veganer. Er befürwortet ein freies Leben jenseits von Konventionen und Zwängen. Das ist in der Summe sympathisch. Ob man deshalb eine Partei wie „For Britain“ unterstützen muss, nur weil sie das Problem islamischer Gegengesellschaften radikal thematisiert, ihre Vorsitzende Tierrechtlerin ist und ansonsten ziemlich liberal lebt und denkt – diese Entscheidung mag man anzweifeln wollen.
Wer so denkt und handelt, hat das Konzept Morrissey nie verstanden
Aber, hey: „Whatever happens, I love you“. That’s the concept.
[1]https://www.spiegel.de/spiegel/morrissey-ueber-brexit-kevin-spacey-und-merkels- fluechtlingspolitik-a-1178545.html
[2] Wer sich wirklich dafür interessiert, was Morrissey denkt und wie er zu manchen Ansichten kam, muss mehr tun, als Musik zu hören. Nämlich lesen. Empfehlenswert ist seine Autobiographie (bislang nur im englischen Original verfügbar). Oder, allerdings schon älter, die Zusammenstellung „Im Gespräch mit Morrissey“ von Len Brown (Hannibal Verlag, 2009).
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Der Autor
Michael Schreiner ist 38 Jahre alt, lebt im Corona-Epidemiezentrum Heinsberg und arbeitet dort beruflich mit behinderten Menschen. Er lebt zusammen mit einem Schäferhund-Rottweiler-Mix namens Hugsi, ist Gewerkschaftsmitglied, tierschutzbewegt und seit sechs Jahren aktiv im Betriebsrat seiner Arbeitsstelle sowie Mitglied der SPD. Privat trinkt er gern französischen und israelischen Rotwein, pflegt seine CD-Sammlung und ist am liebsten mit seinem Hund im stillen Wald. Parties kann er nicht leiden, sondern bevorzugt Konzerte mit Schwerpunkt auf melancholischen Klängen. Seit annähernd zwanzig Jahren ist er leidenschaftlicher Morrissey-Fan.
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